Aufklärung zum Thema Drogen

Die Illusion des „Ich“

Es gibt viele wissenschaftliche und esoterische Modelle über das “ICH” im Menschen. An dieser Stelle möchte ich alle mir bekannten Modelle vorstellen, die sich kritisch mit dem “ICH” auseinandersetzen.

Jetzt wird es sehr psychologisch…

Jeder, der schon mal Cannabis oder härtere Drogen konsumiert hat (oder regelmäßig meditiert), wird vielleicht erlebt haben, dass sich die Wahrnehmung der eigenen Psyche extrem ändern kann. Insbesondere passiert es häufig, dass sich das “ICH” kurzfristig aufzulösen scheint.

Wer dieses Gefühl der Ich-Auflösung kennt, wird vielleicht an sich selbst zweifeln und befürchten verrückt zu werden. Keine Panik. Hunderte von Wissenschaftlern und Esoterikern haben sich mit diesem Phänomen beschäftigt. Einige der Ergebnisse werde ich hier vorstellen.

Warnung: Wer diesen Artikel gründlich ließt, wird an seinem “ICH” zweifeln. Für Gefühlsverwirrungen und eventuell ausbrechende Psychosen übernehme ich keine Verantwortung. 😉

1. Das ICH in der Literatur

1.1 “Spüre die Welt” (ein Buch von Tor Noerretranders)
1.2 “Carlos Castaneda und die Lehren des Don Juan” (ein Buch von Lothar-Rüdiger Lütge)
1.3 “Buddha ohne Geheimnis” (ein Buch von Ayya Khema)
1.4 “Magie” (ein Buch von William G. Gray)
1.5 Theorien von Franz Mechsner (erschienen im Geo-Magazin)
1.6 “Cosmic Trigger” (ein Buch von Robert Anton Wilson)
1.7 ‘Die Unschuld’ im chinesischen I-Ging und der Narr im Tarot
1.8 “Miteinander reden – Teil 3” (ein Buch von F. Schulz von Thun)
1.9 Die Unfreiheit des Willens (nach Arthur Schopenhauer)
1.10 “Die hohe Schule der Hypnose” (ein Buch von Kurt Tepperwein)
1.11 “Pforten der Wahrnehmung” (Ein Buch von Aldous Huxley)

2. Das ICH im eigenen Erleben

2.1 Nenne mir eine Handlung…
2.2 Wie lernt man Schiessen?
2.3 Die Meditation der Leere
2.4 Der ‘Traum’ der Leere
2.5 Die innere Welt kommt aus dem NICHTS

3. Das Modell

3.1 Das alte Bild vom ICH
3.2 Das Gleichnis mit dem Fussballfan
3.3 Das Parlament des Bewusstseins
3.4 Konsequenzen

1. Das ICH in der Literatur
1.1 Das Buch “Spüre die Welt – die Wissenschaft des Bewusstseins” von Tor Noerretranders

Die moderne westliche Psychologie beschäftigt sich schon lange mit dem Bewusstsein des Menschen. In der jüngeren Geschichte der Psychologie finden wir zu Anfang unseres Jahrhunderts die “Introspektion” als das Mittel der Wahl: Psychologen schauten aufmerksam in ihr Inneres und zogen ihre Schlussfolgerungen daraus (Freud, Jung, Adler, …). Es folgten die Behavioristen, die sich lediglich für äusserlich beobachtbare Verhalten des Menschen interessierten. Schliesslich finden wir in der Gegenwart die “Kognitionswissenschaft, die den Menschen als informationsverarbeitendes Wesen begreift”. {242}Die Kognitionswissenschaft macht es sich also zum Ziel, die psychologischen Vorgänge mathematisch beschreiben zu können. [Siehe auch den Littipp Geschichte der Psychologie.]
(Eine hervorragende Zusammenfassung der ersten acht Kapitel liefert der Autor selbst auf den Seiten 302-305.)
Informationsströme im Gehirn (Kapitel 6)

Viele naturwissenschaftliche Experimente haben sich damit beschäftigt, wieviel Information der Mensch aufnehmen, verarbeiten und verbreiten kann. Dabei stellte sich etwas Unglaubliches heraus: “Die Zahlen sind gross. Das Auge sendet pro Sekunde mindestens 10 Millionen Bit ans Gehirn, die Haut 1 Million, das Ohr 100.000, der Geruchssinn weitere 100.000 und der Geschmackssinn ungefähr 1000 Bit. Alles in allem sind das mehr als 11 Millionen Bit/s. […] Aus den Messungen ergibt sich, dass unser Bewusstsein um die 40 Bit/s erlebt. Es gibt sogar gute Gründe anzunehmen, dass diese Zahl zu hoch gegriffen ist. […] Die Bandbreite des Bewusstseins ist viel geringer als die Sinneswahrnehmung.” {1,191}

Der Autor nennt uns drei Experimente zur Überprüfung, dass das Bewusstsein nicht alles erfährt, was die Sinne wahrnehmen. Beispiel: Man schließe die Augen und öffne sie anschließend für den Bruchteil einer Sekunde. Danach überlege man, was man alles gesehen hat.{194}Eine andere Möglichkeit: Man beschreibe den Raum, in dem man sich befindet, aus seiner Perspektive so gut wie möglich und spricht dies auf ein Tonband. Wenn das Betrachten 1Sekunde dauert, müsste das genaue Beschreiben 11 Tage nonstop dauern.

Noerretranders resümiert: “Bewusstsein hat in einem viel größeren Masse mit aussortierter als mit vorhandener Information zu tun. Es ist in ihm fast keine Information mehr übrig.” {1,192}

Hier fehlt das Bild nv083_1.gif.

Abbildung auf Seite 219: “Baum der Rede, auf ein Küpfmüller-Diagramm übertragen. Zwei Personen sprechen über eine geringe Bandbreite miteinander, beide haben aber einen Baum im Kopf. Der Baum wächst in den Bereich der großen Bandbreite hinauf, die im Küpfmüller-Diagramm für das Gehirn angegeben ist.” (Leider ist die Bildqualität nicht sehr gut; auf unterster Ebene beträgt die Informationsübertragung 10^2 Bit/sek und in den höheren Ebenen 10^8 bis 10^12 Bit/sek.)

“Bemerkenswert ist also, dass das Gehirn sehr viel Information mit grosser Bandbreite empfängt, dass es selbst aber darüber hinaus in der Lage ist, sehr viel mehr an Information zu verarbeiten, als es aufnimmt. Es versorgt den übrigen Körper mit ungefähr noch einmal so viel Information, wie es aufnimmt. Das mag logisch erscheinen. Nur erhält das Bewusstsein [ICH] so gut wie keine Kenntnis von dem, was vor sich geht!” {1,215} Das sehen wir auf der nächsten Abbildung.

Hier fehlt das Bild nv083_2.gif.

Abbildung auf Seite 225: “Das Bewusstsein [ICH] zwischen Input und Output” zeigt, dass das gesamte Bewusstsein 10^09 Bit/sek aufnimmt 10^7 Bit/sek und abgibt. Der riesige Informationsstrom, der zur Verarbeitung notwendig ist, ist hier nicht ersichtlich. Dazwischen liegt das ICH mit 10^02 Bit/s. Zwischen aufgenommener Information und bewusster Information liegt der Faktor 10^07. Unser gesamtes Bewusstsein rezipiert also 10 Millionen mal mehr Information, als sich das ICH bewusst wird. Man kann über das astronomische Missverhältnis nur spekulieren, wenn man die Verarbeitung der Informationen mit einbezieht. {1,214}

Soll das ICH mit sehr großen Informationsmengen arbeiten, so muss es intelligente Strategien finden, um seine eigenen Grenzen zu überwinden. Es muss große Mengen Information komprimieren können. “Es ist, mit anderen Worten, praktisch, Symbole zu verwenden. Sie helfen uns, eine Menge Information zu behalten, obwohl wir nur sieben Dinge auf einmal im Kopf haben können. Symbole sind die Trojanischen Pferde, mit denen wir Bits ins Bewusstsein [ICH] einschmuggeln.” {1,199} Sie sind Exformation. Dieser Mechanismus wird uns bei dem Autoren William G. Gray (s.u.) noch stark beschäftigen; in seinem Buch ‘Magie’ beschreibt er ausführlich den Umgang mit Symbolen.

Aufgrund dieser Verhältnisse liegt der Verdacht nahe, dass das ICH in der Gesamtheit unseres Bewusstseins keine allzu große Rolle spielen kann. Im Gegenteil – das ICH ist nur das Ende einer langen Informationskette, doch dazu mehr…
Subliminale Wahrnehmung (Kapitel 7)

“Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Untersuchung der menschlichen Sinneswahrnehmung begann, spielte die Vorstellung einer Schwelle, eines limen, eine wichtige Rolle. […] Die Schwelle selbst, und das ist das Interessante daran, wird als die Grenze zum bewussten Erfassen eines Reizes definiert. Etwas subliminal Wahrgenommenes ist also ein Reiz, den wir aufnehmen, obwohl er so schwach ist, dass wir ihn nicht bewusst registrieren.” {1,231}
“Die subliminale Wahrnehmung ist weiter erforscht worden, und in den siebziger und besonders den achtziger Jahren hat sich endgültig erwiesen, dass der weitaus größte Teil der Information, die der Mensch verarbeitet, vom Bewusstsein nicht erfasst wird, auch dann nicht, wenn sie nachweisbar Einfluss auf sein Verhalten ausübt.” {1,236}Diese Erkenntnis wird häufig als die “Atombombe der Psychologie bezeichnet”, denn es ging eine Schockwelle durch Wissenschaft und Politik. In den 50er Jahren “zogen nicht wenige Psychologen den Schwanz ein” {1,235} und leugneten die subliminale Wahrnehmung schlichtweg. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum die subliminale Wahrnehmung ein widersprüchliches Thema zu sein scheint – viele Menschen haben schlichtweg Angst vor Manipulation.

Unter anderem auf diesen Erkenntnissen aufbauend hat sich das Bild der Wissenschaftler über das Bewusstsein gewandelt: “Es ist jetzt leichter zu begreifen, dass es Unbewusstes, Paralleles und Unergründliches gibt, während andererseits das Bewusstsein fast unbegreiflich geworden ist.” {1,244}Klar, man versuche mal 16 Bit/s in einem Strom von mindestens 10.000.000.000 Bit/s aufzuspüren! Aus technischer Sicht handelt es sich hier um ein kaum nachweisbares Rauschen.
“Der amerikanische Philosoph und Kognitionsforscher Daniel Dennett beschreibt die Entwicklung: Wir sind heute in der Situation, dass wir einfach eine lange Reihe von Behauptungen akzeptieren müssen, denen zufolge in uns Deduktionsprozesse aufgrund komplexer Hypothesenüberprüfung und Gedächtnisdurchforstung – also Informationsverarbeitung – stattfinden, die der Introspektion vollkommen unzugänglich sind. […] Es ist nicht nur so, dass unser Innenleben Außenstehenden zugänglich ist, einige mentale Vorgänge sind Außenstehenden sogar zugänglicher als uns selbst!” {1,244}

“Charles Sanders Pierce entwickelte den Begriff Abduktion zur Beschreibung eines Prozesses, bei dem ‘unbewusste Kräfte aktiviert’ werden, um eine Hypothese oder Meinung zu bilden”. Die Aktivierung basiert auf der Fähigkeit “den inneren sprachlichen Dialog zum Stillstand zu bringen, und sich selbst in einen Zustand passiver Empfänglichkeit für die nonverbalen Signale zu bringen, die gewöhnlich im Rauschen der Hirnrinde untergehen.” {1,250}
Um diese Aussage besser bewerten zu können, müsste man einen Schwenk u.a. in das Kapitel “Der Baum der Rede” machen. Dort wird ausgeführt, dass unsere Worte, unsere ganze Sprache, aus Exformation besteht. Die Unmenge an Information, die wir z.B. mit der Vorstellung “Haus” verbinden, wird in dem Wort “Haus” komprimiert. Wenn wir den “inneren sprachlichen Dialog” zum Stillstand bringen, vermeiden wir die Exformation und dringen so zu der Information durch. Was dies bedeutet, kann man mit sprachlichen Mitteln kaum ausmalen; es ist gigantisch. Jedenfalls führt es z.B. zu dem Phänomen, dass Pierce den Dieb seiner Uhr intuitiv sicher identifizieren konnte, ohne dass er es also rational begründen konnte.

“Ein besonders überzeugendes Beispiel dafür, dass Menschen aufgrund von Informationen aus der Umgebung handeln können, von denen das Bewusstsein nichts weiß, ist das Phänomen des blind-sights, des Blindsehens. Es wurde in den siebziger Jahren bei Patienten mit schweren Läsionen der Sehrinde entdeckt, die in weiten Segmenten ihres Gesichtsfeldes erblindet waren. Sie sahen aber etwas, nur wussten sie es nicht. Wies man ihnen Objekte im Blindbereich des Gesichtsfeldes vor, konnten sie auf sie zeigen, sie ergreifen, korrekt handhaben und über ihre Lage Auskunft geben. Doch behaupteten sie, sie nicht sehen zu können.[…] Ein eindeutigeres Beispiel für die Existenz von Sinneswahrnehmung ohne Bewusstsein ist schwer vorstellbar.” {1,250f}

“Um 1980 begann die intensive Erforschung des primings, eines Phänomens, das deswegen interessant ist, weil es unter anderem mit eindeutig kognitiven Prozessen zu tun hat. Es geht um das Wiedererkennen von Wörtern und anderen sinnhaltigen Objekten.” {1,251}Probanden können den Inhalt von Bildern sehr viel schneller erkennen, wenn gleichzeitig ultrakurz das beschreibende Wort gezeigt wird. Dies ist den Betroffenen aber natürlich nicht bewusst; sie wundern sich selbst über die gewonnene Schnelligkeit. Jetzt kommt aber der Clou: Die beschleunigende Wirkung des gezeigten Wortes wirkt nur dann, wenn es wirklich zu dem Bild passt. Ansonsten ist es wirkungslos. Damit ist der Beweis erbracht, dass wir nicht nur unterbewusst wahrnehmen, sondern auch intelligente Leistungen vollbringen!

“‘Das Bewusstsein [ICH] macht einen sehr viel geringeren Teil unseres Seelenlebens aus, als uns bewusst ist – weil wir kein Bewusstsein davon haben, wovon wir kein Bewusstsein haben’, schreibt der amerikanische Psychologe Julian Jaynes in ‘Der Ursprung des Bewusstseins’. […] Es ist, als verlange man von einer Taschenlampe, dass sie in einem dunklen Zimmer einen Gegenstand ausfindig macht, der im Dunkeln bleibt. Weil es überall hell ist, wohin die Lampe ihren Strahl richtet, muss sie daraus schließen, dass der ganze Raum erleuchtet ist. Genauso kann der Eindruck entstehen, als ob das Bewusstsein das ganze Seelenleben durchdringe, auch wenn dies nicht im entferntesten der Fall ist.” {1,257}Hier geht also eine Identifikation vonstatten, die die wahren Verhältnisse in unserem Kopf verkennt.

Ist das Denken eine bewusste Aktivität? Jacques Hadamard sagt: “Ich beharre darauf: Wenn ich wirklich denke, sind Wörter in meinem Verstand überhaupt nicht vorhanden. Selbst nach dem Lesen oder nach dem Hören einer Frage verschwindet jedes einzelne Wort, sobald ich anfange, darüber nachzudenken. Die Wörter kehren nicht in mein Bewusstsein zurück, ehe ich die Untersuchung zu Ende geführt oder aufgegeben habe.” {1,258}
Es lohnt sich, diese Behauptung nachzuprüfen; ist sie nicht merkwürdig, diese Stille im Kopf, wenn wir denken oder uns erinnern wollen? Ist es nicht erstaunlich, dass wir etwas Schwieriges gefragt werden und die Antwort in weniger als einer Sekunde zum Aussprechen bereit steht?
“Julian Jaynes hält es für erwiesen, ‘dass der eigentliche Denkvorgang, der gemeinhin als das Herz- und Kernstück des Bewusstseins betrachtet wird, überhaupt nicht bewusst ist, und dass lediglich seine Vorbereitung, sein Material und sein Endergebnis im Bewusstsein wahrgenommen werden.’” {1,259}

Aus den Kapiteln sechs und sieben geht klar hervor, dass das ICH nicht alle Wahrnehmungen verarbeiten kann: weder quantitativ, noch qualitativ. Tatsächlich ist das Bewusstsein kontinuierlich damit beschäftigt, die Unmenge an Informationen (10^9 Bit/s) auf ein Minimum zu reduzieren (10^2 Bit/s), die das ICH verarbeiten kann. In den ersten fünf Kapiteln beschäftigt sich Noerretranders ausführlichst mit diesem Thema. Doch wo gerechnet werden soll, da muss auch eine gewisse Zeit in Anspruch genommen werden…

Eine halbe Sekunde Verspätung (Kapitel 9)

Manche herausragenden Erkenntnisse entstehen eher zufällig. So auch die revolutionierenden Experimente des Benjamin Libet. Er hatte durch den Wohlwollen des amerikanischen Gehirnchirurgen Feinstein die Möglichkeit, Experimente am offenliegenden Gehirn vorzunehmen. Dort stellte er – ohne etwas bestimmtes zu suchen – fest, dass elektrische Reizungen in sensorischen Zentren der Großhirnrinde nur dann bewusst wahrgenommen werden, wenn diese Reizungen länger als eine halbe Sekunde andauerten. {1,330} Andererseits konnte er nachweisen, dass das UBW sehr wohl kürzere Reizungen verarbeitet.{1,337} Hier war also ‘nebenbei’ ein experimenteller Nachweis von subliminaler Wahrnehmung gelungen (der Patient konnte bei sehr kurzen Impulsen fehlerfrei ‘raten’, ob der Impuls erfolgte).
Um dem rätselhaften Phänomen näher zu kommen, reizte Libet zwei Zonen gleichzeitig: Die Haut der linken Hand und das Gehirnzentrum der rechten Hand. {1,339}Was passierte? Der Haut-Reiz der linken Hand wurde 0,5 Sekunden früher wahrgenommen; oder um es anders auszudrücken: erst wenn die Haut der linken Hand 0,5 Sekunden nach der Reizung der Großhirnrinde erfolgte, spürten die Patienten eine Gleichzeitigkeit. Irgendetwas geht also im Gehirn vor, was das Bewusstsein um eine halbe Sekunde verspätet wahrnehmen lässt.
Da das ICH diese Zeitdiskrepanz aber nicht bemerkt, muss eine Zeit-Rückdatierung im Gehirn vor sich gehen.

Nachdem der Gehirnchirurg Feinstein gestorben war, konnte Benjamin Libet seine Arbeiten am offenen Gehirn nicht weiter fortsetzen. Also wählte er den Weg, mit einem EEG die elektrischen Potentiale an der Schädeloberfläche zu messen. Diesmal untersuchte er nicht den Zeitverzug von bewussten Sinneswahrnehmungen, sondern den Zeitverzug von bewussten Entscheidungen.
Andere Wissenschaftler hatten bereits festgestellt: “Eine ganze Sekunde, bevor jemand den Finger krümmt oder einen Fuß bewegt, gibt das Gehirn zu erkennen, dass ein Bereitschaftspotential entsteht. [….] Das Auftreten des Bereitschaftspotentials leuchtet an sich ein: Das Gehirn bereitet eine Handlung vor, indem es berechnet, wie sie am besten auszuführen ist.” {1,313f}
Libet fand folgendes heraus: “Die Ergebnisse sind sehr deutlich: Das Bereitschaftspotential letzt 0,55 Sekunden, das Bewusstsein hingegen 0,2 Sekunden vor der Handlung ein. […] Das Bewusstsein, dass wir eine Handlung durchführen wollen, zu der wir uns aus eigenem Antrieb entschließen, tritt fast eine halbe Sekunde nach dem Moment ein, in dem das Gehirn mit der Vorbereitung des Entschlusses begonnen hat.” {1,319}

Noerretranders fasst die Experimente Libets zusammen: “Zusammen liefern diese beiden Untersuchungsreihen ein erstaunliches Bild. Es muss ungefähr eine halbe Sekunde Hirnaktivität stattgefunden haben, ehe Bewusstsein entsteht. Das gilt für Sinneswahrnehmungen ebenso wie für Entschlüsse.
Bei Wahrnehmungen wird das subjektive Erlebnis jedoch in der Zeit zurückdatiert, so dass es empfunden wird, als stelle es sich zum Zeitpunkt der Sinnesreizung ein.
Bei bewussten Entschlüssen zum Handeln wird der bewusste Entschluss als das erste Glied des Prozesses erlebt, währen die Hirnaktivität, die bereits eine knappe halbe Sekunde zuvor begonnen hat, nicht ins Bewusstsein dringt.” {1,348} In beiden Fällen (re)agiert das UBW nachweisbar schneller!

Wo bleibt hier der freie Wille?
Ist es so, dass das ICH zwangsläufig ein passiver Beobachter der Handlungen des UBW ist? Nicht unbedingt – denn immerhin vergehen noch die 0,2 Sekunden zwischen dem bewussten Willensentschluss und der Bewegung des Fingers. “Hat das Bewusstsein Zeit genug, die Handlung abzubrechen, bevor sie ausgeführt wird? Benjamin Libet ‘rettet’ den freien Willen mit einem solchen Vetorecht. Das Bewusstsein hat genügend Zeit, ein Veto einzulegen, ehe der Entschluss in die Tat umgesetzt wird, Libets Experimente liefern sogar Beweise dafür, dass der Vetomechanismus funktionieren kann. […] Das Bewusstsein kann die Handlung zwar nicht beginnen, es kann aber beschließen, dass sie nicht realisiert [ausgeführt] wird. […] Der freie Wille entwirft nicht selbst, sondern er wählt aus. […] Bewusstsein ist keine auf oberster Ebene angesiedelte Instanz, die untergeordneten Einheiten im Gehirn Anweisungen erteilt, sondern ein selektierender Faktor, der unter vielen Möglichkeiten, die das Nichtbewusste anbietet, eine Auswahl trifft. […] Unsere Handlungen können wir bewusst kontrollieren, aber nicht unsere Begierden. […] Wie sollten sonst Freuds verdrängte Impulse funktionieren? Gäbe es keinen Unterschied zwischen der Lust zu handeln und der Handlung selbst, könnten Verdrängungen überhaupt nicht stattfinden. Man braucht Zeit, um etwas zu verdrängen.” {1,351f}

Leider geht Noerretranders nicht auf die Experimente ein, die “beweisen”, dass das Veto tatsächlich vom ICH stammt. Das ist insofern merkwürdig, als dass der Autor sonst sehr ausführlich über die Experimente berichtet und es ihm wichtig ist, dass es das Vetorecht tatsächlich gibt.
Noerretranders ist sich bewusst, dass auch das UBW Vetos einlegen kann; doch: “Die Grundregel lautete, ‘nur das Bewusste sei bewusst’. […] Da uns ein bewusstes Veto bewusst ist, können wir uns selbst fragen, wie oft wir einen Entschluss 0,2 Sekunden vor der Ausführung mit einem Veto belegen.” {1,357}Er sieht diese seltenen Fälle besonders dann, wenn wir z.B. dabei sind, etwas neues zu erlernen oder wenn uns etwas besonders wichtig ist. Es sind also oft unangenehme Situationen, in denen wir unserer selbst bewusst sind und unsere Handlungsimpulse ständig abbrechen. Oder Situationen, wo wir etwas völlig neu lernen, was uns schwer fällt, eine Sprache, einen Sport, einen Tanz. “Wir unterbrechen uns ständig selbst, vielleicht weil wir uns unserer Leistungsfähigkeit oder des Urteils anderer nicht sicher sind. Wir fürchten, uns lächerlich zu machen. Wenn wir uns unsrer bewusst sind, neigen wir dazu, uns selbst zu beurteilen, uns von außen zu sehen, mit den Augen anderer zu betrachten.” {1,358}Noerretranders vermutet: “Wir bemerken das Nichtbewusste nur, wenn es dem Bewussten widerspricht. Das Bewusstsein weiß sich gern identisch mit dem ganzen Menschen und räumt unbewussten Regungen nur widerstrebend Platz ein.” {1,359}und schließt das Kapitel mit den Überlegungen: “Wir fühlen uns am wohlsten, wenn das Bewusstsein den freien Willen nicht ausübt. Wirklich froh ist der Mensch, wenn das Bewusstsein nicht eingreift und die nichtbewussten Regungen zum Handeln auswählt. Es fühlt sich am wohlsten, wenn er nur handelt. Die Konsequenz: Wenn wir uns wohl fühlen, regiert nicht das Bewusstsein. Wir müssen deshalb fragen: Haben wir einen freien Willen nur dann, wenn es uns schlecht geht, oder auch in Momenten, in denen wir uns wohlfühlen?
Maxwells Selbst (Kapitel 10)

Viele Spitzensportler geben bei Interviews an, dass ihre Leistungen nicht bewusst erbracht werden, sondern dass sie explizit nicht nachdenken, wenn sie z.B. Fußball spielen. {1,364}Er zeigt auf, dass es etwas Grosses in unserem Kopf gibt, was uns lenkt. Aus den Tatsachen, dass das ICH nur eine winzige Bandbreite hat und dass körperliche und kreative Höchstleistungen vom Unbewussten erbracht werden können, schließt Noerretranders: “ICH entscheide immer noch selbst, was ich tue, nur ist es nicht mein ICH, dem die Entscheidungsgewalt zukommt. Es ist mein SELBST.” {1,370}

Hiermit beginnt ein neues Bild des Bewusstseins. Das kleine ICH geht mit dem Unbewussten auf – in das SELBST. Dabei neigt das ICH oft dazu, “sich Entscheidungen, Berechnungen, Erkenntnisse und Reaktionen zuzuschreiben, die das SELBST ausgeführt hat. […] Unsere Gehirne haben einen freien Willen, wir jedoch nicht.” {1,371}”Die von Libet erkannte Verspätung des Bewusstseins zwingt uns dazu, uns zwischen dem ICH und dem freien Willen zu entscheiden. Wir müssen erkennen, dass wir mehr sind, als wir selbst glauben; dass wir über mehr Ressourcen verfügen, als wir selbst erleben; dass wir mehr von der Welt spüren, als wir bemerken.” {1,373}”Dem Bewusstsein die Freiheit zu geben ist das große Problem. Es erfordert Vertrauen seitens des ICH, und dieses Vertrauen entsteht durch Übung.” {1,380}Noerretranders zeigt, dass die Ablösung des ICH durch das SELBST oft als Gipfelerlebnis empfunden wird und der taoistischen Sicht der Welt entspricht. Als mögliche Übung schlägt er vor, dass ICH mit Informationen zu überlasten, um das Selbst freizusetzen. Eine andere Technik ist das sich selbst lächerlich machen; man verliert die eigene Wichtigkeit und vieles fällt uns leichter. “Rituelle Wörter können Beschwörungen sein, die den ‘inneren Radiosender’ verstummen lassen und die freie Entfaltung des Selbst ermöglichen.” {1,386}Die Beziehung zwischen dem ICH und dem SELBST wird auch durch Placebos deutlich, wo das ICH wieder Vertrauen zum SELBST findet und die Heilung nicht weiter blockiert. {1,390}

“Das große psychologische Problem der modernen Kultur liegt darin, dass der Mensch die Existenz eines Selbst jenseits des ICH nicht akzeptieren will. Das Problem des ICH aber ist, dass es keine andere Möglichkeit hat, als das SELBST zu akzeptieren. […] Denn das SELBST ist all das, was das ICH nicht akzeptieren kann: Es ist nicht voraussagbar, unordentlich, lustig, schnell und mächtig.” {1,393}
Soeren Kierkegaard sprach von drei Stadien auf dem Lebensweg, die auch als drei Phasen der Annäherung von ICH und SELBST angesehen werden können: In der ersten Phase gibt es keine Beziehung zwischen dem ICH und dem SELBST (”Das ICH ist nicht verankert.”). In der nächsten Phase stemmt sich das ICH dagegen auf, in das SELBST überzugehen (”ICH will nicht ich SELBST sein.”). In der dritten Phase sei das Leben geprägt von der Unfähigkeit, das ICH aufzulösen, obwohl der Wille dazu da ist (”ICH will gern ich SELBST sein. Aber ich wage es nicht.”) {1,393ff}
Die Benutzerillusion (Kapitel 11)

“Michael Gazzaniga und seine Kollegen haben sogenannte Split-brain-Patienten untersucht – Menschen, bei denen der Balken, die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften, durchtrennt worden war – und sind zu Beobachtungen gelangt, die jeden überraschen müssen, der glaubt, das Bewusstsein sei ein einheitliches Phänomen.” {1,397} Wenn bei einem Patienten die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften durchtrennt wird, verliert eine von ihnen die Verbindung zur Sprache.
Das Phänomen lässt sich praktisch studieren, indem man einem solchen Patienten zwei verschiedene Bilder in den beiden Segmenten des Gesichtsfeldes zeigt; der linke Teil des Gesichtsfeldes ist mit der rechten Gehirnhälfte verbunden und umgekehrt. Zeigt man dem linken und rechten Auge verschiedene Bilder (links eine Schaufel und rechts ein Huhn), so weiß eine Gehirnhälfte nicht von dem Bild der anderen. Feststellen kann man dies, in dem man beide Gehirnhälften befragt. Fragt man verbal “Sag mir, was Du gesehen hast!”, so antwortet die linke Gehirnhälfte “Ich sehe ein Huhn.”. Fragt man nach einer nonverbalen Antwort “Zeige auf ein Photo, was du gesehen hast.”, so wird die Hand auf eine Schaufel zeigen. Das besondere daran ist, dass dem Patienten nicht auffällt, dass er zwei verschiedene Antworten gibt. Als Michael Gazzaniga die verschiedenen Antworten sah und den Patienten fragte “Paul, warum hast Du das getan?”, blickte Paul auf und sagte, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, von seiner linken Hemisphäre aus: “Oh, das ist einfach. Die Hühnerklaue gehört zum Huhn, und man braucht eine Schaufel, um den Hühnerstall auszumisten”. {1,404}

“Die eine Hand weiß nicht, was die andere tut, aber das Gehirn hat sofort eine Erklärung parat.”, sagt Noerretranders und man fühlt sich sofort an Sigmund Freuds Rationalisierung erinnert, wo er genau dies beschreibt: Man handelt aus unbewussten Motiven und findet jederzeit eine einigermaßen plausible Begründung dafür.

Der Forscher LeDoux stellt fest: “Rationalisierende Gedanken entstehen aus der Konfrontation des bewussten Selbst [ICH] mit der Tatsache, dass zielgerichtete Tätigkeiten ohne seine Zustimmung oder Mitwirkung ausgeführt worden sind. Das bewusste Selbst [ICH] versucht, eine Geschichte zu erdichten, mit der es leben kann. Das ICH benutzt die aufgenommenen Erfahrungen als Anhaltspunkte, um eine kohärente Geschichte, unsere persönliche Geschichte, zu konstruieren und aufrechtzuerhalten. […] Es ist die primäre Funktion des Bewusstseins, solche Geschichten über das ICH und seine Welt zu erdichten. Das ICH lügt das Blaue vom Himmel herunter, um ein zusammenhängendes Bild von etwas herzustellen, das es gar nicht versteht.” {1,406}

Für die Psychologen Oakley und Eames ist klar: “Die subjektive Einheit von Selbstgefühl, Denken und persönlichem Erleben ist eine Illusion, hervorgerufen durch die begrenzte Kapazität der SelbstBewusstseinssysteme.” {1,406}

Unter Hypnose kann man Teile des Bewusstseins beliebig ein- und ausblenden. Der Hypnoseforscher Ernest Hildegard brachte zum Beispiel einen Studenten dazu, grundsätzlich taub zu sein. Egal wie laut und überraschend ein Knall auch sein mochte – der Student hörte nichts. Wenn man jedoch zusätzlich suggerierte, dass ein Teil des Bewusstseins sich melden sollte, wenn es Worte höre, so gab es dies durch Gesten zu verstehen, ohne dass der Student sich diese Geste erklären konnte. {1,407f}

Noerretranders führt aus, dass unser Bewusstsein die Umwelt nicht direkt wahrnehmen kann: “Wir erleben nicht die rohen Sinnesdaten, sondern ihre Simulation. Die Simulation unserer Wahrnehmungserlebnisse ist eine Hypothese über die Wirklichkeit. Die Simulation ist das, was wir erleben, die Dinge selbst erleben wir nicht. Wir nehmen sie wahr, doch erleben wir nicht die Wahrnehmung, sondern deren Simulation. […] Wir erleben nur einen Teil dessen, was unsere Sinne erfassen, den Teil nämlich, der im gegebenen Zusammenhang sinnvoll ist.” {1,413}Wir können das Geschehen über verschiedene Sinne aufnehmen und verarbeiten, obwohl unterschiedlich lange Verarbeitungszeiten im Gehirn notwendig sind. “Hätten wir diese halbe Sekunde nicht, um die verschiedenen Eindrücke zu synchronisieren, würde unser Wirklichkeitserlebnis, um einen Ausdruck Libets zu versenden, möglicherweise in einem flirrenden Zittern (jitter) bestehen.” {1,414}

[Nebenbei sei angemerkt, dass dieser Effekt des ‚flirrenden Zitterns‘ wohl unter dem Einfluss von Drogen wahrgenommen wird. Möglicherweise werden unter Drogen einige zentrale Bewusstseinsmechanismen außer Gefecht gesetzt – eine sehr lehrreiche Erfahrung…]

In der Computerwelt wird oft untersucht, wie die User mit der Maschine “Computer” zurechtkommen. Das Bild, welches der Mensch in seinem Kopf aufbaut, um das Geschehen im Computer zu verstehen, wird als “Benutzerillusion” bezeichnet. Am Xerox-Forschungszentrum erkannte man, “dass es kaum eine Rolle spielt, ob die Vorstellung richtig oder vollständig ist, sie muss nur kohärent und zweckmäßig sein.[…] Die Benutzerillusion ist eine gute Metapher dafür, dass die konkreten Einsen und Nullen gleichgültig sind, nicht aber ihre Funktionen.” {1,416f} Noerretranders behauptet nun: “Die Benutzerillusion ist eine gute Metapher für Bewusstsein. Das Bewusstsein ist unsere Benutzerillusion von uns selbst und der Welt; eine Karte von uns selbst und unseren Möglichkeiten, auf die Welt einzuwirken.” {1,417}

Der britische Biologe Richard Dawkins schreibt: “Vielleicht entsteht Bewusstsein dann, wenn das Gehirn die Welt so vollständig simuliert, dass die Simulation ein Modell ihrer selbst enthalten muss.” {1,417}

Wie aber sind Träume im Hinblick auf Benutzerillusion und Simulation zu verstehen? Noerretranders vermutet “Träume seien eine Art Probelauf von Simulationen.” {1,423}

Später betont Noerretranders noch einen anderen, sehr wichtigen Aspekt im Spannungsfeld von ICH und SELBST: Das stumme Wissen. Darunter versteht er Wissen in unserem Kopf, für welches wir keine Worte finden können. Beispiel: Wir erkennen ein Bild von Marilyn Monroe auch in gröbster Auflösung; aber wir sind nicht in der Lage, ihr Gesicht ausführlich zu beschreiben. Dieses Phänomen benannte der englische Philosoph Mechael Polanyi als stummes Wissen. Es ist lohnenswert darüber nachzudenken, wieviel Wissen wir in uns tragen, das wir nicht sprachlich ausdrücken können.

“Der Nutzen von Bewusstsein und ICH besteht darin, dass sie in der Lage sind, einen Zusammenhang zu überblicken und den Zweck einer Tätigkeit zu erkennen, zu der wir keine Lust haben, zum Beispiel des Übens. […] Das ICH ist der Sitz der Disziplin, obwohl es sehr wenige Bits pro Sekunde verarbeitet. Die wirkliche Stärke des ICH macht sich aber erst geltend, wenn es sich demütig zeigt gegenüber dem Selbst, das so viel mehr kann, weil seine Bandbreite um ein Vielfaches größer ist. Das Bewusstsein ist ein wundervolles Instrument, wenn es seine eigenen Grenzen kennt.” {1,434}

“Wir können über das Wesentliche nur sprechen, indem wir nicht sprechen, sondern handeln. Wir können einander die Dinge zeigen, sie gemeinsam spüren, von den grünen Daumen der anderen lernen, können uns unserer und anderer Fähigkeiten freuen. Aber wir können einander nicht im einzelnen darüber berichten. Das ICH sagt zwar: ‘Ich kann radfahren’, aber das kann es in Wahrheit nicht. Das SELBST kann es. Lao-Tse, der chinesische Weise, der den Taoismus begründete, sagte, als er sich zum Sterben in die Berge zurückzog: ‘Ein Wissender redet nicht; ein Redender weiß nicht’. {1,441}
Der Ursprung des Bewusstseins (Kapitel12)

“1976 stellte der amerikanische Psychologie Julian Jaynes die schockierende Theorie zur Diskussion, die Menschen hätten vor dreitausend Jahren kein Bewusstsein gehabt. ‘[…] Es ist möglich, dass zu irgendeiner Zeit einmal Menschen gelebt haben, die sprachen, urteilten, Schlüsse zogen und Probleme lösten, ja, die so gut wie alles, was wir tun, zu tun vermochten, die aber nicht das geringste Bewusstsein besaßen.” {1,443}
Bewusstsein sei “für die Lebensfunktion des Menschen nicht so unabdingbar notwendig, wie wir glauben. Es sei eine relativ junge Erfindung. […] Bewusstsein und Ich-Begriff seien historisch entstanden und historisch veränderbar. […] Nach diesem Verständnis handelte der Mensch auf Geheiß der Götter, nicht aufgrund eigener Regungen. Gefühle, Triebe und Entschlüsse waren Ergebnisse göttlichen Wirkens im Menschen. Möglich war das nach Jaynes’ Auffassung dadurch, dass die menschliche Psyche aus zwei ‘Kammern’ bestand, die der rechten und linken Gehirnhälften entsprechen.” {1,444}

(Das war es soweit zum Thema “Die Illusion des ICH” bei Noerretranders. Eine extrem kompakte Gesamt-Zusammenfassung des gesamten Buches ist auf der NGFG-Seite vorhanden.)

1.2 Das Buch “Carlos Castaneda und die Lehren des Don Juan” von Lothar-Rüdiger Lütge

Castaneda unterscheidet zwischen dem Tonal (unserer subjektiven, kleinen Wirklichkeit) und dem Nagual (der übergeordneten, objektiven Realität). Dem Tonal sind alle Eigenschaften des ICH zugeordnet. Dem Nagual kommt das Unterbewusste, nicht sprachliche nahe. Diese beiden Einheiten sind grundverschieden und nicht kompatibel.

Das Tonal entsteht durch Sinneswahrnehmungen und deren Interpretation, beziehungsweise durch die Sprache. Im Tonal finden wir alle Vorstellungen, auf die wir uns bewusst beziehen können. Außerdem festgefahrenen Meinungen; Vorurteile über sich selbst; Vorurteile fremder Menschen über einen selbst; das Ablehnen der absoluten Verantwortung für die eigenen Handlungen; alltäglichen Routinehandlungen; Selbstüberheblichkeit; widersprüchlicher Lebensführung; ständigem “Herumdenken”; planlosen Träumen; vielem Reden; Zurecht-Rationalisieren; Selbstgesprächen; Tagträumen; Angst; Machtbesessenheit; Trägheit; Abhängigkeit von Menschen, Geld und Bequemlichkeit; ständiger Erreichbarkeit; Projektionen; Erwartungen; zu vielen Kompromissen (keine Makellosigkeit); dem Glauben der Sinnhaftigkeit der eigenen Handlungen; der Suche nach ‘falsch’ und ‘richtig’; dem Zwang zu handeln; den Bezug auf Kindheit, Ausbildung u.ä.
Mit anderen Worten: Hier ist genau das ICH beschrieben. Es ist keine substanzielle Instanz, sondern eine Illusion.

Das Nagual ist prinzipiell nicht durch Worte zu beschreiben, aber es steht komplementär zum Tonal. Es ist ganzheitlich, sehr leistungsfähig. Hier ein Erlebnis Castanedas, als er in einem Wald in große Angst versetzt wurde und sein Verstand aussetzte: “Unerklärlicherweise bewegte ich mich mit erstaunlichem Selbstvertrauen. Soviel ich wusste, hatte ich nichts getan, was dieses Gefühl rechtfertigte, aber mein Körper schien die Dinge zu erkennen, ohne dass ich mir ihrer bewusst wurde. Zum Beispiel konnte ich die zerklüfteten Felsblöcke auf meinem Weg nicht erkennen, aber meinem Körper gelang es, stets auf die Kanten und nie in die Spalten zu treten…” {5,137} “Ein solches Erlebnis kann dazu dienen, uns die unbewussten Kräfte und Fähigkeiten bewusst zu machen. Selbstverständlich steht uns unser intuitives Können grundsätzlich immer zur Verfügung und nicht nur in extremen Situationen. Doch solange wir uns in der normalen Alltagswelt befinden, greifen wir nicht darauf zurück, weil unser Verstand uns daran hindert… Wir müssen lernen, unsere Entscheidungen mit ‘dem Herzen’ zu treffen und nicht ausschließlich mit dem Verstand.” {5,137}
Mit anderen Worten: Hier ist unser Unterbewusstes beschrieben.

Die Lehre Don Juans will das Tonal (ICH) auflösen, um das Nagual (UBW) freizusetzen. Das zentrale Stichwort dabei ist DAS ANHALTEN DES INNEREN DIALOGS: “Ich hatte bei dieser Gelegenheit auch erkannt, dass das Anhalten des ‘Inneren Dialogs’ mehr bedeutet als ein bloßes Zurückhalten der Worte, die ich zu mir selbst sprach. Mein ganzer Denkprozess hatte ausgesetzt, und ich hatte das Gefühl, zu schweben, dahinzutreiben.” {5,72}
Don Juan sah “das Einstellen des ‘Inneren Dialogs’ als den Schlüssel zur Welt der Zauberer”{5,78}, denn “unsere Ichbezogenheit, die aus dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit resultiert, versperrt uns den Blick für unser Eingebundensein in die Prozesse der Natur und des Lebens.” {5,88}[Siehe Abduktion]

“Erst wenn wir ‘Nichts’ mehr erwarten, haben wir die letzten Projektionen unseres Verstandes hinter uns gelassen – und erst dann sind wir vorbereitet, ‘Alles’ zu sehen. Es ist also gerade das ‘Handeln ohne Erwartung’, das den entscheidenden Schlüssel für uns bereithält.” {5,70}

Folgende Strategien schlägt Don Juan vor, um das Tonal (ICH) aufzulösen: “Handeln ohne Erwartung”, “Richtiges Gehen und Gaffen”, “Die persönliche Geschichte auslöschen”, “Verantwortung übernehmen”, “Die eigene Wichtigkeit verlieren”, “Den Tod als Ratgeber benutzen”, “Luzide Träumen”, “Routine unterbrechen”, “Makelloses Handeln” und noch einiges mehr. Diese Strategien werden uns noch häufiger begegnen.

[Anmerkung: Castaneda-Profis werden feststellen, dass die obigen Gedanken nicht 100%-ig auf die Philosophie von Carlos Castaneda passen. In der Tat geht Castaneda mit seinen Modellen noch tiefer in das Problem der ‚Wirklichkeiten‘ hinein, als es die ICH-Problematik leisten kann. Aber dennoch scheint es mir, dass die ICH-Interpretation der Castaneda’schen Gedenken durchaus fruchtbar und daher zulässig ist.]

1.3 Das Buch “Buddha ohne Geheimnis” von Ayya Khema

Der Buddhismus setzt sich seit langer Zeit intensiv mit der Frage auseinander, was das ICH ist und welche Bedeutung es hat. Beispielhaft für die ganze Lehre des Buddhismus sollen einige Passagen aus dem sehr schönen Buch “Buddha ohne Geheimnis” zitiert werden:

“Wenn wir bedingungslos lieben, verkleinert sich unser ICH – und um nichts anderes dreht sich die Lehre des Buddha -, bis es eines Tages so klein geworden ist, dass wir es als Gespinst, als Illusion, als gar nicht existent erkennen.” {6,19}

Ayya Khema nennt drei Formen der Befreiung: Die vorstellungslose Befreiung, die wunschlose Befreiung und die substanzlose Befreiung. Zwei dieser Formen sollen hier vorgestellt werden:

“Die vorstellungslose Befreiung. Das erste Tor, die Erkenntnis der Unbeständigkeit (annica), ist der Moment, da man die Vorstellungswelt, in der man lebt, als ein Nichts erkennt. […] Es ist am Anfang unserer Meditationspraxis nicht von so großer Bedeutung – später dann schon-, ob die Konzentration auf das Meditationsobjekt ein wirkliches Ausschalten der Gedanken und das Erleben der Reinheit des Geistes bringt, also die Ruhe-Meditation. Am Anfang ist es genauso wichtig festzustellen, was mit den Gedanken los ist, wie sie einander jagen, um dann, mit etwas mehr Klarheit, mehr Konzentration, vielleicht sogar gewahr zu werden, wie sie aus dem Nichts entstehen und in das Nichts vergehen. Wenn man das ein paar mal erlebt hat, glaubt man keinem Gedanken mehr. Dann benutzt man das Denken nur noch für die Zwecke des alltäglichen Lebens und Überlebens.” {6,76f}

“Die substanzlose Befreiung. Dieses Tor der Leere, das sich auf das Nicht-ICH bezieht, ist wohl deshalb am schwierigsten zu verstehen, weil es gegen all unsere Gefühle und gegen all unsere Arbeit, die wir hier in diesem Leben geleistet haben und in naher Zukunft zu leisten gedenken, geht. Denn all unser Tun ist ja darauf gerichtet, das ICH sicherer, glücklicher, harmonischer und ruhiger zu gestalten. Aber wenn das ICH nicht da ist, wozu dann? […] Was uns im Grunde hindert, die Lehre vom Nicht-ICH zu verstehen, ist unser Widerstand: Wir wollen nicht. […] Bei “ICH” beziehungsweise “Nicht-ICH” sind zwei Wirklichkeitsebenen zu unterscheiden; die absolute und die relative. Der Buddha hat die Frage, die immer wieder auftaucht, woher das “ICH” denn komme, wenn es in Wahrheit gar nicht existiere, folgendermaßen beantwortet: Wir bestehen aus fünf “Anhaftungsgruppen” und aus nichts sonst. Es sind Körper, Gefühl, Wahrnehmung, Gedanken und Bewusstsein (SinnenBewusstsein). Der Buddha hat vorgeschlagen, jeder möge einmal in sich untersuchen, ob er noch etwas anderes finden könne, und das schlage ich Ihnen auch vor. Es ist durchaus der Mühe wert, das selber festzustellen. […] Solche Betrachtungsweisen sind Hilfsmittel, die der Buddha immer wieder erwähnt und besprochen hat, um uns aus dem Wahn aufzuwecken, in dem wir leben: ‘Ich bin, ich werde, ich habe, ich bekomme, ich kann, ich will.. ich!’ Dieser Wahn des ICH ist der Wahn all unserer Probleme, ist der Wahn aller Kriege, ist der Wahn aller Argumente.
[…Zu den Gedanken in der Meditation:] Wir haben diese Gedanken weder eingeladen, noch sind sie uns willkommen. Wir müssen einmal anfangen zu verstehen, dass Gefühle und Gedanken einfach sind, ob das ein Rückenschmerz ist oder ein Kribbeln auf der Nase. Nicht ICH bin. […] Obwohl das unmittelbar einleuchten sollte, bemühen sich erstaunlich wenige Menschen, das ICH loszuwerden, sogar unter denen, die der Buddha-Lehre folgen. Und die ist ja auf Ego-Verkleinerung gerichtet. Wer aber den Mut hat, den üblichen Widerstand zu überwinden und ins Ungewisse zu treten, spürt dann selber, wie sehr er sich geholfen hat.” {6,81ff}

1.4 Das Buch “Magie” von William G. Gray

Die jüngere Geschichte meiner ICH-Beschäftigung beginnt mit dem Buch “Magie – Das Praxisbuch der magischen Rituale”. Dort lese ich folgendes:

“Die Erfahrung hat gezeigt, dass die beste Lernmethode diejenige ist, die auf dem Nichts-Prinzip beruht bzw. auf dem Ausschluss der Konzentration von allem, das nicht zum Wesen des Studiengegenstandes gehört. Dies gewährleistet eine direkte Verbindung zwischen dem Gegenstand und dem aus der Tiefe kommenden inneren Bewusstsein des Schülers.
In der Magie ist dieser Vorgang ausschließlicher Konzentration unter dem Begriff des ‘Bannens’ oder ‘Verbannens’ bekannt und hat folglich weniger mit dem Loswerden von Dämonen zu tun als mit der Isolierung eines puren Bewusstseinsstromes durch den Ausschluss aller verunreinigender Einflüsse. […] Bis diese Kunst zu einem gewissen Grad erlernt ist, sollte nichts anderes erstrebt werden, denn aus dem NICHTS kommt ALLES. […] Die Bedeutung des Nichts-Gedankens ist für die magische Arbeit nicht wegzudenken. […] Bevor irgendein Gefäß mit irgendeinem bestimmten Inhalt angefüllt werden kann, muss es leer sein […] Ein Text kann nur auf einem leeren Blatt Papier aufgezeichnet werden.” {7,24ff}

Gray empfiehlt an dieser Stelle, im eigenen Bewusstsein drei Kreise um sich selbst zu ziehen, die sich zu einer Kugel ergänzen. Es sollen jeweils “Raum”, “Zeit” und “Kausalität” aufgelöst werden, damit der Geist frei sein kann.
[Eine interessante Parallele beschreibt Noerretranders durch Immanuel Kant: „Kant erneuerte die Philosophie, indem er darlegte, dass der menschlichen Erkenntnis apriorische Denkformen der Anschauung (Zeit und Raum), des Verstandes (zum Beispiel „Ursache“) und der Vernunft vorgegeben seien.“ {1,282}Strebt Gray an, dass wir unsere a priori Mechanismen auflösen? Das würde Sinn machen.]

Der Nichts-Zustand “… ist das vollkommene Gegenteil von Kraftlosigkeit oder Impotenz, eine Energiekonzentration höchsten Ausmaßes und stellt den völligen Durchbruch über jede Grenze eines Irgendetwas-Seins hinaus dar. Er verkörpert höchste und absolute Freiheit im wahren Sinne des Wortes und ist über jede mögliche Begrenzung erhaben. Nichts und Alles ist identisch.” {7,27}

“Beim Erwerb der Herrschaft über das Alles durch das Nichts muss die Fähigkeit des Nichtreagierens entwickelt werden. Das heißt, dass auf keinen Reiz eine Reaktion folgen darf, egal wie stark er ist. […das Auflösen von Reiz-Reaktions-Ketten findet sich auch bei vielen anderen Autoren, z.B. Castaneda oder Steiner {13,47}…] Es ist in der Tat eine schwer zu erlernende Kunst, da selbst für den geringsten Erfolg eine beträchtliche Übung erforderlich ist. Fortgeschrittene begeben sich in ein Freibad oder setzen sich vor das plärrende Radio.” {7,27}

“Die herkömmliche Methode der Beziehungsaufnahme zum Nichts, aus dem Alles kommen muss, und besonders alles, was beabsichtigt ist, besteht in der Ziehung von Nichts-Kreisen. Es handelt sich um Kreise, die um den Ausführenden am Anfang jedes Rituals gezogen werden. [siehe Abduktion]
Sie dürfen keine oberflächliche Geste sein, die aus der vagen Hoffnung heraus geschieht, Dämonen damit zu vertreiben, sondern müssen eine hochwirksame psychologische Struktur verkörpern, die sozusagen das Arbeitsgerüst für das gesamte folgende Bauwerk bildet. Sie werden folgendermaßen eingerichtet…” {7,28}

Gray sieht in der Arbeit mit Symbolen den Königsweg zum Unbewussten. Er zeigt deutlich auf, dass Symbole durch eine lange, intensive Arbeit an der Exformation schließlich nutzbar sind. Schließlich müssen Erkenntnisse und Wünsche durch konsequentes Übertragen auf alle Lebensbereiche [siehe „Makelloses Handeln“ bei Castaneda] eingeübt und eingeprägt werden.

1.5 GEO-Zeitungsartikel von Franz Mechsner

In der Geo 2/1998 {2} findet sich ein Artikel über das ICH, in der der Philosoph Thomas Metzinger seine interessante Sicht des ICH beschreibt:

“Wie ist es da möglich, dass man sich als selbstbestimmt Handelnden erleben und begreifen kann, als autonomes und freies Ich? Metzinger: “Die Illusion der Unabhängigkeit beruht darauf, dass mir die Hirnprozesse verborgen bleiben, die in Wahrheit mein Erleben aufbauen und meine Handlungen verursachen.” Das scheinbar autonome Ich entstehe, weil das Gehirn Gedanken, Worte und Werke dem Selbstmodell zuschreibe und dabei nicht bemerke, dass dies Selbstmodell seinerseites nur ein geistiges Konstrukt ist, ein gedankliches Modell eben. “Wir verwechseln uns nur mit diesem Ich. Wir glauben fälschlich, wir seien der Inhalt dieses Selbstmodells.”

Durch diesen “Zaubertrick”, meint Thomas Metzinger, durch diese Selbsttäuschung des Gehirns erzeugt die Natur Subjekte. Weil das Gehirn, das da verwechselt, selbst kein Ich ist, lassen sich seltsame, schockierende Sätze formulieren: “In Wahrheit bin ich Niemand, kein Ich oder Selbst.” Oder: “Das Ich ist eine Illusion, die niemandes Illusion ist.” Oder: “Es gibt Gedanken, aber keinen Denker.”

Einst hielt René Descartes die Einsicht “Ich denke, also bin ich” für die “gewisseste aller Erkenntnisse.” Seine Argumentation: Wenn es bewusste Wahrnehmungen und Gedanken gibt, dann muss es auch “jemanden” geben, der diese Erlebnisse hat, die “denkende Substanz” namens Seele. Doch diese Erkenntnis ist ein grandioser Fehlschluss: “Das Ich denkt nicht, sondern wird gedacht – es ist selbst nur ein Modell, das vom Gehirn benutzt wird”, sagt Metzinger.

Aus dieser Argumentation lässt sich auch ableiten, dass es nicht der subjektiv empfundene Wille ist, der unser Handeln verursacht. Wirken können nur physikalische Prozesse, seien sie nun von einem Gefühl des Willens begleitet oder nicht. Nur: Es entgeht uns ein großer Teil der Selbstorganisationsprozesse des Gehirns, die das Handeln verursachen. Das Gehirn aber versteht es, sich selbst Geschichten zu erzählen, die uns Autonomie und Rationalität unserer Entscheidungen vorgaukeln. Bei Bedarf erfindet es sich Märchen, die es dann auch glaubt, wie es der Neuropsychologe Michael Gazzaniga in den sechziger und siebziger Jahren in höchst eindrucksvoller Weise anhand mittlerweile klassischer Experimete demonstrieren konnte.

Gemeinsam mit seinem damaligen Mentor, dem später mit dem Nobelpreis geehrten Roger Sperry, untersuchte Gazzaniga “Split-Brain”-Patienten, denen aus medizinischen Gründen die Verbindung zwischen den Großhirnhälften durchtrennt worden war. Zeigt man der wenig sprachbegabten rechten Hemisphäre ein obszönes Bild, beginnt der Patient vielleicht zu grinsen. Gefragt, warum er grinse, gibt er jedoch nicht den wahren Grund an, sondern sagt etwas wie: “Ihr Hemd sitzt so komisch.” Die sprachbegabte linke Hemisphäre, die wegen der gekappten Verbindung zur rechten nichts von dem Bild weiß, fabuliert sich einfach eine Geschichte zurecht.

Die Neigung des Gehirns, sich selbst etwas vorzumachen, wenn es die Wahrheit nicht kennt, kann etwa auch Psychoanalyse-Patienten dazu bringen, sich an traumatische Kindheitserlebnisse zu “erinnern”, die in Wirklichkeit niemals stattgefunden haben. Wir sind gefangen in unseren Erzählungen, wie Gazzaniga es formuliert: “Mein Ich wohnt in meinem Fabulieren und Phantasieren, in einem Gespinst von Geschichten.”

Man könnte daraus schließen, dass wir Menschen letztlich blinde, deterministische Automaten sind, rettungslos verstrickt in unsere Selbsttäuschungen. Es gibt Denker, die den Schluss gezogen haben, etwa unsere Willensfreiheit sei eine bloße Illusion…”

1.6 “Cosmic Trigger” von Robert Anton Wilson

“Während Shea und ich mit der Arbeit an Illuminatus! fortfuhren, begann der Materialist seine ersten Experimente mit Crowleys Techniken zur Bewusstseinsveränderung. Bei einem Experiment verbannte ich den Gebrauch des Wortes ‘Ich’ während einer Woche aus meiner Konversation. Der verrückte Aleister empfahl bei Rückfällen eine Methode, die Skinner später als ‘negative Verstärkung’ bezeichnete; bei jedem Ausrutscher schnitt er sich mit einem Rasiermesser gewaltsam in seinen Arm und sprach ‘Ich’. Euer nicht ganz so abgehärteter Erzähler begnügte sich mit einer weniger heroischen Kontrolle: Ich biss mir bei jedem Versagen fest in den Daumen. Etwa nach dem vierten Tag hatte ich einen ziemlich wunden Daumen und ein noch schmerzhafteres Ego. Die Subjektivität und die Selbstzentriertheit des normalen menschlichen Bewusstseins zeigte sich mit mir abscheulicher Offenheit. Am siebten Tag befand ich mich in einem veränderten Bewusstseinszustand und betrachtete das Ego als eine unbequeme Erfindung.” {4,92}

1.7 Das Hexagramm “Die Unschuld” des chinesischen I-Ging

Das I-Ging ist ein sehr altes chinesisches Orakel. An einer Stelle findet sich ein für das ICH in der Übersetzung von Richard Wilhelm sehr passendender ‘Orakelspruch’:

“Der Mensch hat vom Himmel die ursprünglich gute Natur erhalten, dass sie ihn bei allen Bewegungen leite. Durch Hingabe an dieses Göttliche in ihm erlangt der Mensch eine lautere Unschuld, die ohne Hintergedanken an Lohn und Vorteil einfach das Rechte tut mit instinktiver Sicherheit. Diese instinktive Sicherheit bewirkt erhabenes Gelingen und ist fördernd durch Beharrlichkeit. Es ist aber nicht alles instinktive Natur in diesem höheren Sinn des Wortes, sondern nur das Rechte, dass mit dem Willen des Himmels übereinstimmt. Ohne dieses Rechte wirkt eine unüberlegte instinktive Handlungsweise nur Unglück […]” {8,107}

Überhaupt ist es äußerst lohnenswert, sich in der Literatur das 25. Hexagramm des I-Gings durchzulesen.

Gleichfalls interessant ist in diesem Zusammenhang die Tarot-Karte des ‘Narren’: “Der Narr symbolisiert die Absichtslosigkeit, die noch nicht auf materiellem Boden steht. […] Er lernt sein tiefes, in Worte nicht zu fassendes Wesen kennen, das noch ungeformt schon alle Anlagen in sich trägt. […] Er entspricht dem schöpferischen Willen, der noch keine Absicht hat.[…] Der Narr ist der noch ungeoffenbarte Zustand, die ursprüngliche Ganzheit oder der Zustand vor Anbeginn. […] Auf der Ebene des Bewusstseins verkörpert der Narr das Staunen, mit dem nach Platon alle Erkenntnis beginnt. Der Narr steht am Beginn, am Nichts; sein gesamtes Selbst ist noch von kosmischen Erfahrungen durchdrungen, die rationale Basis der materiellen Welt mit ihren funktionalen Handlungsabläufen fehlt. Sein bewusstes Erleben ist von Träumen und Traumwelten beeinflusst, denn die Bindung an das Unfassbare dominiert. Zwar ist die Weisheit des Narren Sinnbild höchster Reife, aber das heißt natürlich nicht, dass jeder Narr ein Weiser ist.” {9,22ff}

1.8 “Miteinander reden – Teil 3: Das ‘innere Team’ und situationsgerechte Kommunikation”

Dieses Buch behandelt das Thema der multiplen ICHs aus therapeutischer Sicht.

In der Bücher-Reihe “Miteinander reden” des Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun dreht sich alles um die Kommunikation. Teil 1 und 2 behandeln die Probleme und Herausforderungen der Kommunikation zwischen Menschen.
Der 1998 erschienene Teil 3 hingegen spezialisiert sich auf die Kommunikation des Menschen mit sich selbst. Er stieß auf diese Problematik, als er die Forderung der “stimmigen Kommunikation” formulierte: “Willst Du ein guter Kommunikator sein, … dann schau in Dich selbst hinein … und nimm auch den Systemblick ein”. Das nach innen schauen mit dem Ziel der authentischen und identitätsgemäßen Kommunikation birgt “eine kleine Komplikation… denn der Mensch ist mit sich selbst nicht ein Herz und eine Seele!”, vielmehr schlagen (mindestens) zwei Herzen in seiner Brust {3,16}.
Die verschiedenen Persönlichkeitsteile eines Menschen nehmen in seinem Buch “einen breiten Raum” ein und sind für die Problematik des ICH äusserst fruchtbar. Als Metapher für die verschiedenen Persönlichkeitsteile nimmt Schulz von Thun das Bild des ‘inneren Teams’ und sieht sich durch die aktuelle Forschung bestätigt, die “zur Struktur und Wirkungsweise des menschlichen Gehirns nahelegen, die Vorstellung eines einheitlichen Geistes aufzugeben und eher die Konföderation vieler ‘kleiner Geiste’ anzunehmen” {30f}.

Welche anderen Wissenschaftler oder Autoren haben den Autoren Schulz von Thun in dieser Annahme gefördert und gefestigt? Es waren zum Beispiel der amerikanische Gehirnforscher Ornstein 1992: “… innerhalb des Schädels sitzt eine Vielzahl von hochspezialisierten und voneinander durchaus abgetrennten ‘kleinen Geistern’.” {3,31}
Oder Robert Jungk in seinen Erinnerungen: “Ich begann zu begreifen, dass in jedem einzelnen mehrere Persönlichkeiten steckten, dass wir widersprüchlicher, aber auch vielfältiger waren, als es uns die Schule gelehrt hatte”. {3,45f}
Des weiteren nennt er Hermann Hesse, der in seinem “Steppenwolf” einen Aufklärungsfeldzug startet “gegen das angeborene und völlig zwanghaft wirkende Bedürfnis aller Menschen, dass jeder sein ICH als eine Einheit vorstellt”. {3,46}
Erwähnungen finden auch Veröffentlichungen von C.G. Jung (Schatten und Archetypen), Virgina Satir (”Meine vielen Gesichter”), Bach und Torbet 1985 (”innerer Feind”), Goulding 1988 (”innerer Halunke”), Assagioli und Ferucci 1993 (”Psychosynthese”), Stone 1989 (”Du bist viele”), Orban 1996 (”Der multiple Mensch”), Schwartz 1995 (”Systematische Therapie der inneren Familie”) und schließlich Stierlin 1994 (”Anteilspsychologie” in Anlehnung an die Teilchenphysik). {3,50ff}

1.9 Die Unfreiheit des Willens nach Arthur Schopenhauer

“Ich glaube NICHT an die Freiheit des Willens. Schopenhauers Wort ‘Der Mensch kann wohl tun, was er will – er kann aber nicht wollen, was er will.‘ begleitet mich in alles Lebenslagen und versöhnt mich mit den Handlungen der Menschen, auch wenn sie mir recht schmerzlich sind. Diese Erkenntnis von der Unfreiheit des Willens schützt mich davor mich selbst und die Mitmenschen als handelnde und urteilende Individuen allzu ernst zu nehmen und den guten Humor zu verlieren.” {10} und {12,80}

1.10 “Die hohe Schule der Hypnose” von Kurt Tepperwein

In der Wissenschaft der Hypnose wird erforscht, wie man Zustände der Entspannung nutzen kann, um das Bewusstsein eines Menschen zu erforschen und zu ändern. In der medizinischen Anwendung spielt insbesondere der Posthypnotische Befehl eine zentrale Rolle. Durch ihn kann einem Patienten eine Suggestion vermittelt werden, die auch dann noch wirkt, wenn der Patient aus der Hypnose erwacht. Somit kann z.B. eine Sucht oder ein psychosomatisches Leiden geheilt werden.

Die Kraft eines posthypnotischen Befehls kann so stark sein, dass sich das ICH nicht dagegen wehren kann. Kurt Tepperwein beschreibt dies anhand eines Studenten, der einem harmlosen Befehl nicht widerstehen kann, obwohl er sich stundenlang dagegen wehrte {15,143f}. Er verlor die Wette, dass er nicht in einen bestimmten Raum gehen würde, aus einem Stapel Spielkarten das Pik-As heraussuchen würde und seinem Professor geben würde.

In diesem Buch finden sich sehr viele eindrucksvolle Beispiele, die zeigen, wie machtvoll das Unterbewusstsein ist und wie klein und machtlos das ICH.

(Das kleine Taschenbuch ist leicht zu lesen; wunderbar strukturiert und mit einem ausgezeichneten Inhaltsverzeichnis versehen. Prädikat: äußerst lesenswert.)

1.11 “Pforten der Wahrnehmung” von Aldours Huxley

2. Das ICH im eigenen Erleben
2.1 Nenne mir eine Handlung…

Ein Spiel aus alter Zeit im Freundeskreis: “Nenne mir eine Handlung und ich zeige Dir auf, dass sie durch das UBW gesteuert ist.”
Sei es durch direkten oder indirekten Egoismus, durch Programme der Evolution oder durch Selbstbetrug des UBW. Am ICH bleibt nichts dran; es gelingt kein Beweis für eine Handlung, für welche auf jeden Fall nur das ICH verantwortlich zeichnen kann. Dieses Spiel ist ein Fiasko für das ICH, welches die alleinige Kontrolle über die Handlungen beansprucht.

(Wer hier spontan – also ohne sich jemals mit diesem Thema ausführlich auseinandergesetzt zu haben – zweifelt, sollte sich nicht zu sicher fühlen. Schon die Lektüre des Buches “Das egoistische Gen” von Richard Dawkins sollte nachdenklich machen; er zeigt auf, dass die Gene den Menschen weitreichend steuern.
Ansonsten braucht es schon eine (jahre-) lange Beschäftigung mit der Psychologie, um das Handwerkszeug zu erlangen, die Motivationen der Menschen mit anderen Augen zu sehen. Man kann es als gesichert ansehen, dass hier der ‘normale Menschenverstand’ schlichtweg versagt. Sorry.)

2.2 Man lernt Schiessen

Das präzise Schiessen mit einer Kleinkaliberpistole ist nicht gerade einfach. Es wird mir schnell klar, dass das ICH nicht in der Lage ist zu entscheiden, wann der Abzug gedrückt werden soll. Denn die Hand zittert immer (mal mehr, mal weniger) und ICH weiß nie, wann es richtig wäre, abzudrücken. Unter den Schützen heißt es “man muss den Schuss gleiten lassen, man muss sich überraschen lassen”. Dies verstand ICH zu Anfang nicht und deswegen konzentrierte ICH mich darauf, den richtigen Zeitpunkt bewusst zu finden. Aber es klappt nicht. Hingegen sind die Ergebnisse überraschend gut, wenn ICH mich mehr oder weniger absichtslos und ruhig hinstelle und das Schiessen ‘geschehen’ lasse. Auch nach einigen Wochen Pause, wenn ich völlig entspannt wieder mit dem Training beginne, sind die Ergebnisse erstaunlich gut.

2.3 Die Meditation der Leere

Aufgrund der theoretischen Erkenntnisse beginne ICH in der Meditation das Erlernen des “Nicht-denkens”. Der Anfang ist natürlich schwer und von Misserfolgen geprägt. Doch mit der Zeit funktioniert es immer besser. Es stellen sich merkwürdige Gefühle und Gedanken ein. Die ‘Meinung’ der normalen Welt sucht mich heim und will mir mit dem Satz: “Man kann doch nicht an nichts denken!” meine Anstrengungen durchkreuzen. Doch ich lasse dieses Vorurteil hinter mir und merke, dass es funktioniert. Manchmal funktioniert es gut und eine gewisse Glückseeligkeit stellt sich ein. Als es besonders gut funktionierte, passierte aber etwas ganz anderes: Urplötzlich überkam mich eine Todesangst! Zunächst konnte ich damit nichts anfangen, aber schließlich fand ich eine Deutung: Mein Bewusstsein, mein ICH löste sich tatsächlich auf. Mit dem dauerhaften Verlust der Gedanken und Bilder (5 bis 10 Minuten) ’starb’ das ICH.

Mittlerweile vertrete ich die Meinung, dass die Anstrengung der Gedankenleere das beste praktische Beispiel ist, um die Tücke des Bewusstseins zu erkunden. Diese Idee stammt aber nicht von mir, sondern ist eine Standard-Anfängerübung vieler magischer Bücher (z.B. Gray oder Bardon{14}). Zurecht, wie ich inzwischen einsehen durfte. Es gibt kaum etwas interessanteres als zu sehen, wie man bei dieser eigentlich leichten Übung des “Nichts-Denkens” versagen kann. Wie sich die Gedanken heimtückisch von hinten ins Bewusstsein schleichen. Wie das ICH das nicht sieht und erst nach langen Gedankenketten aufwacht. Wie machtlos das ICH ist und dies auch sofort eingestehen muss.

2.4 Der “Traum” der Leere

[…] Ich werde mein UBW. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Ich sehe in großer Klarheit, dass das UBW mindestens die legendären 90% ausmacht und das Bewusstsein nur wenig Einfluss hat. Dann wird es noch heftiger: Ich sehe, dass das Wachbewusstsein lediglich ein Beobachter ist. Es beobachtet die Gedanken und Handlungen des UBW und identifiziert sich oft mit ihnen. (Oft aber auch nicht…) Es ist wie der Tracer im fuzzyTECH. Eine vollkommen passive Angelegenheit, die aus unerfindlichen Gründen meint, eine entscheidende Instanz zu sein. (Hier spielt meine Beschäftigung mit NeuroModel eine große Rolle. Dort erahne ich die Mechanismen eines KNN.) Jetzt wechsle ich die Seite und bin eine Sammlung von Neuronen, die z.T. verschieden ausgeprägte Areale aufweist. Diese Partitionen widersprechen sich teilweise: Z.B. im Thema Sexualität/Spiritualität. Das arme ICH muss sehen, wie es damit klar kommt; aber es hat keinen Einfluss. Auf einmal ist alles klar. Das Ich hat keinen Einfluss auf das vegetative System, auf die nonverbale Kommunikation, auf Sinneswahrnehmung, auf das Gedächtnis. Was bleibt übrig? Die Identifikation – sonst nichts. Ich verstehe jetzt die Aussagen des Buddhismus und fühle mich in diesem Sinne erleuchtet. Mein ICH hat sich vollkommen aufgelöst und übrig bleibt das ?Parlament” meines Gehirns.
Dann schießt es mir in den Kopf: Warum dann Magie betreiben, wie es Gray vorschlägt? Warum sollte das ICH Magie betreiben, wenn es es doch gar nicht gibt? Ganz klar: Die verschiedenen Partitionen meines Gehirns merken, dass sie sich widersprechen. Das passt ihnen natürlich gar nicht und sie erleben Widerstände, die nicht sein müssen. Was tun? Sie müssen sich miteinander absprechen und einen Konsens finden. Doch wie soll dies geschehen, wenn verschiedene Teile des Gehirns/Bewusstseins verschiedene ‘Sprachen’ sprechen und verschiedene Symbole benutzen? Es muss eine gemeinsame Symbolsprache her – und genau die kann die Magie Gray?s liefern. Hier ist es also nicht das ICH, welches wirken will. Das ICH identifiziert sich lediglich mit den Bemühungen des UBW für eine ganzheitliche Kommunikation. Wahnsinn! Anschließend beobachte ich noch eine Weile die Schönheit dieser Erkenntnis und die Ruhe, die sich dabei einstellt. […]
“Bloß nichts vergessen” – immer wieder ermahnte ich mich, meine Gedanken bloß nicht zu vergessen! Doch dann schoss es mir in den Kopf: Wer vergisst denn hier etwas? Es ist nur das sich identifizierende ICH, welches etwas vergessen könnte; das UBW vergisst nichts. Und wenn das ICH etwas vergisst, dann nur, weil Teile des UBW dies so wollen. Das gab mir eine gewisse Ruhe und vertrieb die Angst. Schlimmstenfalls kann ich mich hinterher nicht mehr mit meinen Erkenntnissen identifizieren; was soll?s?

2.5 Die innere Welt kommt aus dem NICHTS
Situation 1: Wir müssen eine Frage beantworten…

Eine Standardsituation: Wir werden etwas schwieriges gefragt. Nach spätestens einer Sekunde haben wir die Antwort.

Aber Moment: Woher kommt denn diese Antwort? Hat das ICH nachgedacht? War das eine bewusste Leistung? Nein! Die Antwort kommt von ganz alleine aus den Tiefen des Bewusstseins. Irgendwann macht es ‘Plopp’ und die Antwort ist da. Man hört sich dann selbst die Antwort sprechen. Manchmal beantwortet man eine Frage und denkt sich dann: “Wow, das war aber echt schlau. Wie komme ich denn auf einen derart guten Gedanken?”.

Probiere es aus! Diesen Effekt bewusst zu erleben ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des ICH.
Situation 2: Wir lassen unsere Gedanken schweifen…

Wie es schon bei vielen Autoren zu lesen ist: Die Gedanken kommen aus dem NICHTS. Wer in einer 5-minüten Meditation versucht an nichts zu denken, der wird sehen, wie unmöglich das scheint. Die Gedanken kommen immer ungefragt aus dem NICHTS. Man kann scheinbar nichts dagegen tun. Es denkt uns! Das ICH kann scheinbar den Gedankenfluss nicht unterdrücken.

Resümé: So oder so ist das ICH überflüssig

Wenn wir also aus diesen beiden Szenarien die Bilanz ziehen, dann steht fest: Weder hat das ICH einen Einfluss, wenn wir auf unsere Umwelt reagieren, noch hat es einen Einfluss darauf, was wir selbst denken.
Was bleibt denn dann noch übrig? Nichts. Das ICH ist in diesem Sinne völlig unnütz. Wir bräuchten das ICH also nicht, um geistig leben zu können; das ist zwar hart, aber man muss sich den Beobachtungen fügen.

3. Das Modell

[Bevor ich zum Modell des ICH komme, möchte ich noch selbstkritisch etwas anmerken: Die Tatsache, dass ich Bücher und Autoren als Basis meiner Anschauungen nenne, ist kein Prädikat für die Richtigkeit. Denn für jede noch so unsinnige Behauptung lassen sich Dutzende Stellen in der Literatur finden, die zumindest teilweise von ‚anerkannten‘ Persönlichkeiten stammen (zumindest im jeweiligen Wertesystem). Also Vorsicht vor der Tücke im System: Das ICH hat Meinungen und will diese stabilisieren. Es sucht sich ein Umfeld mit ähnlichen Anschauungen und Autoren mit ähnlichen Anschauungen. Alle verweisen quer aufeinander und ’stabilisieren‘ sich so gegeneinander. Auch ich befinde mich in einem Meta-Rahmen, aus dem heraus ich argumentiere – aber ich kann nicht anders.
Ich bin mir bewusst, dass beispielsweise ein Christ einen ganz anderen Meta-Rahmen hat, der von meinem vermutlich vollkommen verschieden ist. Wir beide können unsere Meinungen an Hunderten von ‚Kapazitäten‘ und ‚anerkannten Werken‘ beweisen und dennoch sind wir uns keinen Schritt nähergekommen.]

3.1 Das alte Bild des ICH

Mein bisheriges Bild des ICH war etwa wie folgt: Das kleine ICH ist eine selbstverantwortliche Instanz im grossen Gehirn, die Entscheidungen fällen kann und will.
Das ICH führt ständig einen ‘Kampf’ mit dem UBW aus, um Macht und Einfluss zu gewinnen. Es versucht dem UBW ständig ‘Land’ abzutrotzen, um ein vernünftiges, konstruktives Leben führen zu können. Es ist ein Kampf für Freiheit und gegen Komplexe und Verhaftung. Diese Philosophie findet sich in einer sehr interessanten und klaren Weise in der polynesischen Huna-Magie {11}

Später entwickelte sich aber gleichzeitig eine andere Tendenz: Denn das Paradoxe ist, dass das UBW wesentliche Fähigkeiten hat, die das ICH niemals übernehmen könnte – und das weiß es auch. Deswegen führt es ständig einen Kampf gegen sich selbst aus, um sich mit dem UBW zu versöhnen und konstruktiv mit ihm arbeiten zu können.
Diese Situation ist natürlich unbefriedigend (subjektiv und objektiv).

3.2 Das Gleichnis mit dem Fußballfan

Mein bisheriger Stand zum ICH ist folgender: Das ICH ist vergleichbar mit einem Fußballfan.

Zunächst muss man sich vorstellen: Der Fußballfan hat persönlich nicht den geringsten Einfluss auf das Fußballgeschehen (wenn man mal davon absieht, dass er im Stadion seine Mannschaft anfeuern kann). Er kann weder das Spiel lenken, noch die Auswahl der Spieler, noch die Art des Trainings – er ist schlichtweg machtlos. Dennoch spricht er vom “wir”. Wir haben gewonnen! Wir haben die besten Spieler! Wir haben das beste Training! Er fiebert mit dem Spielgeschehen mit und freut sich, wenn die eigene Mannschaft gewinnt und ist traurig und aggressiv, wenn die eigene Mannschaft verliert. Nicht selten bringt er den Fans anderer Vereine Geringschätzung oder Aggression auf. Wie sinnlos ist das Ganze…

Hier finden sich die Prinzipen der Identifikation in einer faszinierenden Weise – und sind gut übertragbar auf das Verhältnis des ICH und die Handlungen der eigenen Persönlichkeit.

3.3 Das Parlament des Bewusstseins

In unserem Gehirn bestehen zu einem beliebigen Thema verschiedenste Meinungen. Denn in unserem Leben sind wir verschiedensten Einflüssen ausgesetzt und haben verschiedenste Interessen (z.B. langfristige und kurzfristige). So sind zum Beispiel unsere beiden Gehirnhälften mit verschiedenen Stärken und Schwächen ausgestattet und unsere verschiedenen Gehirnschichten (Stammhirn, Zwischenhirn und Großhirn) haben ihre ganz eigenen Funktionen. Dieses in vielerlei heterogene (gemischte) System ähnelt einem Parlament mit verschiedenen Fraktionen.

In jeder Millisekunde werden Sinneseindrücke gewonnen und dem Parlament vorgelegt; es handelt sich quasi um einen “Antrag”, der bearbeitet werden muss. Das Parlament hat zu entscheiden, wie es weitergeht. Da es eine heterogene Struktur ist, kommen zu jedem “Antrag” verschiedene Vorschläge zusammen. Welche Fraktionen machen wohl welchen Vorschlag? Der BKI (Bund der kurzfristigen Interessen) macht blitzschnell einen Vorschlag, wohingegen die PLI (Partei der langfristigen Interessen) noch abwägt und später einen Vorschlag macht. Schlussendlich wird dann abgestimmt und die Handlung eingeleitet.

Doch wer repräsentiert die Regierung nach außen hin? Natürlich der Regierungssprecher. Er verfasst bei jeder großen Entscheidung einen Text und verliest ihn vor den laufenden Kameras der Umwelt. Der Regierungssprecher hat sich an bestimmte Formulierungen zu halten, damit seine Rolle als Repräsentant stets klar ist. Nicht “ICH habe beschlossen…”, sondern “Die Regierung hat entschlossen…” ist eine angemessene Formulierung des Sachverhaltes. Dabei ist es natürlich egal, wie er es formuliert, die Tatsachen ändert er durch eine zu große Identifizierung mit der Regierungsarbeit freilich nicht: Das Parlament entscheidet!

Warum braucht die Regierung überhaupt einen Regierungssprecher? Warum kann sie nicht einfach nur regieren? Weil es einen besseren Eindruck macht und Vorteile verspricht, wenn es eine zentrale Person gibt, die einen kontinuierlichen Kurs der Regierung nach außen hin repräsentiert. Auch wenn Abstimmungen widersprüchliche Verhalten ergeben, wird es die Aufgabe des Regierungssprechers sein, hier einen kontinuierlichen Kurs vorzugaukeln. Hier sind natürlich erhebliche rhetorische Fähigkeiten gefragt.

Was passiert denn, wenn der Regierungssprecher sich zu sehr mit den Entscheidungen des Parlaments identifiziert: Stört dies die Regierungsarbeit? Nein, überhaupt nicht. Es ist der Regierung vielleicht sogar egal, denn auf die Handlungen kommt es an. Vielleicht ist es sogar von Vorteil, wenn der Regierungssprecher sich etwas zu viel identifiziert; dann macht er seine Arbeit nämlich besser. Er täuscht glaubhaft ein Bild vor, welches der Regierung mehr Stabilität zuschreibt, als es tatsächlich der Fall ist. Und von diesem ‘Stabil’-Image resultiert die Regierungsarbeit auf jeden Fall.

3.4 Konsequenzen

Ist es mit diesem Wissen berechtigt zu behaupten, das ICH stehe einem UNTERBEWUSSTSEIN gegenüber? Nein, auf keinen Fall. Hier machte sich der “Regierungssprecher” das Parlament zum UNTERTAN. Folglich müssen wir die Begriffe neu definieren:
– Das alte Bewusstsein (ICH) wird jetzt nur noch ICH genannt.
– Das alte Unbewusste wird jetzt SELBST genannt.

Das ICH hat Befugnisse

Wenn man nun all die Informationen dieses Artikels gelesen hat, dann stellt sich vielleicht die Frage: “Ja, was hat es nun mit dem ICH-BEWUSSTSEIN auf sich? Ist es nun eine machtlose Illusion? Oder hat das ICH doch irgendwelche Befugnisse?”.

Auf diese Frage findet man keine direkte Antwort. Man kann sie sich nur indirekt erschließen. Was haben wir denn indirekt bei allen zitierten Autoren gelesen? Man muss durch große Anstrengungen das SELBST (am ICH vorbei) wirken lassen. Daraus kann man folgern, dass das ICH durchaus Macht hat und nicht nur eine Benutzerillusion ist. Oder anders ausgedrückt: Das ICH hat wohl offensichtlich die Möglichkeit dem SELBST im Wege zu stehen.

Der Wert des ICH

Lässt man die Gesamtheit der Informationen auf sich wirken, so kommt das ICH nicht besonders gut weg. Das ICH wird immer nur genannt, wie es dem Selbst im Wege steht. Sofern die Autoren überhaupt praktische Tipps geben, laufen sie darauf hinaus, dass alle Anstrengungen der Menschen darauf fokussiert werden sollen, das ICH zu minimieren.

Es gab KEINEN einzigen Autoren, der sinngemäß sagte: “Das ICH ist eine wertvolle Instanz. Baue sie aus. Fördere Dein ICH.”

Diskussionen haben ergeben, dass das ICH die Quelle allen Leids sein könnte (das klingt jetzt unbeabsichtigt buddhistisch…). Man rennt in der Psychologie offene Türen ein, wenn man sagt: ‘Eine Verengung des menschlichen Wesens auf die kleine EGO-Funktion bringt Probleme’. So ist es z.B. ein wichtiges Ergebnis der Glücksforschung, dass der Mensch nicht zu sehr EGO-zentriert leben soll; die höchsten Glücksmomente erleben wir, wenn wir völlig ‘unbewusst’ im ‘flow’ sind und dabei Zeit und Raum vergessen.

Das zentrale SELBST

Das ICH wird in der zitierten Literatur also immer als ‘Gegenspieler’ zum SELBST dargestellt. Und wie Noerretranders es darstellte, ist das SELBST noch sehr viel schwieriger zu beschreiben als das ICH. Auf jeden Fall kann man zusammenfassen, dass das SELBST wesentlich komplexer als das ICH ist und die weitaus größeren Fähigkeiten hat. Vielleicht kann das SELBST ja sogar in andere Wirklichkeiten schauen…?
Quellen:

{1} “Spüre die Welt” von Tor Noerretranders
{2} GEO-Artikel von Franz Mechsner, erschienen in der GEO 2/1998
{3} “Miteinander reden – Teil3: Das ‘innere Team’ und situationsgerechte Kommunikation” von F. Schulz von Thun
{4} “Cosmic Trigger” von Robert Anton Wilson
{5} “Carlos Castaneda und die Lehren des Don Juan” von Lothar-Rüdiger Lütge
{6} “Buddha ohne Geheimnis” von Ayya Khema
{7} “Magie – Das Praxisbuch der Magischen Rituale von William G. Gray
{8} “I-Ging” von Richard Wilhelm
{9} “Der Crowley Tarot” von Hajo Banzhaf und Akron
{10} Zitat des 20. Liedes der deutschen Popgruppe ‘Die Fantastischen Vier’ auf der CD “Lauschgift”
{11} “Begegnung mit dem verborgenen Ich” von Serge King, erschienen im Aurum-Verlag (über Huna-Magie)
{12} “Stichwort Philosophie”, erschienen im Heyne-Verlag
{13} “Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?” von Rudolf Steiner, erschienen im Rudolf Steiner Verlag
{14} “Der Weg zum wahren Adepten” von Franz Bardon, erschienen im Bauer-Verlag
{15} “Die hohe Schule der Hypnose” von Kurt Tepperwein, erschienen im Goldmann-Verlag
{16} “Die Pforten der Wahrnehmung” von Aldous Huxley, erschinen im Piper-Verlag

Image: © Paolese / Dollar Photo Club

6 Kommentare

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  1. Birdy says:

    also also das ich soll kleiner sein als alles andere in meinem kopf? dabei ist das ich das ausmachen was mich also mein sein zum ich macht… gedanken wahrnehmungen etc soll man in bit zahlen angeben können?
    wüsste mal gerne wie viel terra byte ein gedanke an gott oder ein gebet hergibt.

    wenn ich cannabis rauche bekomme ich eine ausgeprägte psychose…
    ich glaube zu wissen was die wissenschaftler bzw SIE uns erzählen wollen.
    wenn ich cannabis rauche merke ich wie ich beeinflusst werde oder beinflussen kann… ein kurzer seitlicher blick zu einer von aüßeren kommenden situation und man ist eins….

    naja könnte noch stunden lang irgendwas schreiben aber ich muss jetzt für ne englisch klausur üben 😛

    peace
    IanI prais Jah

  2. Ich says:

    also bin neu auf dem gebiet aber anderer seits schon erfahren… wie so nicht in Bit zahlen oder gar per m pro sek unglaublich fantastisch
    danke

  3. post-ich says:

    Das ich löst sich auf. Ich-Auflösung. Dissoziative Erlebnisse.

    Ich konnte mir absolut nicht vorstellen was das bedeuten soll, oder noch wichtiger wie es sich anfühlen würde. Bis heute… Das geile daran ist, dass das Selbst noch voll in der Lage des Erlebens ist, auch oder gerade weil das Ich nicht mehr da ist.

    Nachdem mir das jetzt passiert ist kommt mir der Text wie eine Gehirnspülung vor. Frequenzen aus dem Universum kommen und werden sichtbar. Man bekommt etwas von der Welt, kann verändern, und weiter geben. Das Selbst gestaltet. Ohne dass das ich das mitbekommt. Mir kommt es so vor als wenn das Erleben und das Selbst durch das Ich getrennt werden. Der Abstand ist variabel und unser Selbst wird versuchen nachdem es erfahren hat, dass dem so ist, diesen Abstand abzubauen. Das Ich muss lernen sich nicht immer nur wichtig zu nehmen und das Selbst mal machen lassen. Wenn man aber Jahrzehnte braucht um das zu erleben und dann auch zu kapieren ist das gerade erst der Anfang. Vermutet das ich.

    Na da hat meine Regierung ja mal wieder schönen Quatsch gequasselt. Verflixte Wörter 😉

    Toller Artikel! Sagt diesmal das Selbst und das Ich, die für einen Moment eins waren. Krass!

  4. Maja says:

    Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit den Begriffen „Unterbewusstsein“ und „Ich“. Weiß gar nicht wo mir der Kopf steht. Auf einmal lese ich Dinge, mit denen ich mich vorher noch nie beschäftigt habe und es macht mir irgendwie Angst. Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht. Wie ist es bei anderen??

  5. Kitty says:

    Eine unglaublich interessante Lektüre in dem Thema ist auch ‚Haben oder sein‘ von Erich Fromm. Er meint, das unsere industrielle Gesellschaft viel zu sehr am Konsum hängt und damit sein SEIN sich nicht entfalten kann. Ich finde er ar ein unheimlich inspiriender Mensch.

  6. Lyria says:

    Ich habe das bewusste Ich noch nie (bzw nicht mehr seit Ende meiner Kindheit) als mehr als einen durch das Unterbewusstsein „freigegebenen“ Anteil betrachtet. Instinktives Handeln kenne ich (bzw das Gehirn in meinem Kopf, aber „ich“ als Wort bedeutet für mich vereinfachend nichts Anderes) sehr gut.

    Eine Frage stellt sich allerdings: Wieso entscheidet das Gehirn, wie es entscheidet? Woraus resultieren individuelle Talente und Interessen? Wieso interessiert sich ein Mensch/Hirn für das Fußballspielen, ein anderes für Tennis und andere wieder gar nicht für Sport? Was ich mir abends zu essen koche, entscheide ich nicht autark, sondern es kommt vom Hirn, ist ja klar (wovon auch sonst)? Aber wie entscheidet das Gehirn sich, anhand welcher Kriterien? Irgendwie entscheidet es sich ja doch – ist da irgendein „Wille“ vorhanden, nicht in unserem Ego-Gefühl, sondern einfach im Gehirn?

    Und was spricht dagegen, dieses Gehirn als ICH zu bezeichnen? Letztendlich sind wir doch dieses Gehirn mit bewusstem und unbewusstem Anteil und einem das Gehirn versorgenden Körper drum herum. Habe ich vielleicht ein seltsames Bild davon, was „normale Menschen“ als Ich bezeichnen?